Das Buch "The Sunflower" von Simon Wiesenthal ist wohl so etwas wie ein Standardwerk in der englischsprachigen Schulliteratur über den Holocaust. Ich bin auf das Buch gestoßen, nachdem ich neulich im Rundfunk etwas über das Simon Wiesenthal Center gehört habe. Also habe ich mal geschaut, wer dieser Herr Wiesenthal war, und was er so gemacht hat. Er hat unter anderem dieses Buch geschrieben. Auf den ersten einhundert Seiten erzählt Simon Wiesenthal von einer Begebenheit, die er als Gefangener im Lemberger Ghetto und KZ erlebt hat. Als Zwangsarbeiter wird er eines Tages von einer Krankenschwester in ein Zimmer eines improvisierten Hospitals für verwundete Soldaten geführt. Dort findet er einen sterbenden deutschen SS-Soldaten, der kaum mehr als 20 Jahre alt ist. Dieser Soldat war persönlich an der Ermordung von 300 jüdischen Mitbürgern beteiligt. Auf dem Totenbett wird er reumütig und beichtet Wiesenthal seine Taten, und am Ende bittet er ihn um Vergebung. Wiesenthal verlässt wortlos das Krankenzimmer, ohne dem Soldaten eine Absolution zukommen zu lassen.
Die Frage, die Wiesenthal nun stellt, und die 53 verschiedene Menschen in dem Buch zu beantworten versuchen ist, ob er moralisch, oder ethisch, richtig gehandelt hat. Der Text von Wiesenthal beschreibt das Gespräch, vielmehr den Monolog des Soldaten sehr ausführlich, und auch die subjektive Interpretation und die Gefühle Wiesenthals selbst. Um meine Gedanken hier nachvollziehen zu können, sollte man also das Buch vermutlich gelesen haben. Ich werde hier auch nur auf ein paar Dinge eingehen, die, wie ich finde, von den veröffentlichten Antworten zu wenig beachtet wurden.
Zuallererst finde ich, dass Simon Wiesenthal in seiner Situation vertretbar gehandelt hat. Er war ein dem Tode geweihter, dehumanisierter Gefangener. Er hat nicht ohne Mitgefühl gehandelt, er hat sich selbst in dieser extremen Situation ausführliche Gedanken gemacht und immer wieder Empathie für den Sterbenden gezeigt. Niemand kann von ihm verlangen, in einer solchen Situation, unter der beständigen Angst und Bedrohung, einen Akt wie die Vergebung von 300 Morden seiner Mitmenschen zu gewähren. Ganz abgesehen davon, dass im Buch schon verschiedene Ansichten vertreten werden, ob Mord überhaupt ein Akt ist, der vergeben werden kann. Im Buch vertreten die Autoren jüdischen Glaubens größtenteils die Ansicht, dass Mord nicht zu vergeben ist, dass nur der Mensch vergeben kann, dem das Unrecht geschehen ist. Dies ist durchaus eine Annahme, auf der man ein moralisches Wertesystem fußen kann, aber ebenso kann ich mir die umgekehrte These als "gute" Handlung vorstellen. Wenn der SS Mann ehrliche Reue gezeigt hat, so kann man ihm vergeben, wenn er auch nicht in der Lage war, für seine Taten zu büßen. Diese Ansicht wird hauptsächlich von den Autoren vertreten, die christlichen oder buddhistischen Glaubens sind.
Man merkt schon, dass die meisten, der zu Wort kommenden, sich in irgendeiner Weise auf religiöse Wertvorstellungen berufen. Nur wenige Atheisten oder Agnostiker kommen zu Wort. Eine der wenigen Ausnahmen ist Jean Améry, der als Sohn einer jüdischen Mutter, Holocaust-Überlebender und als Atheist in dem Buch zu Wort kommt. Auch er vertritt eine Ethik, die ich als durchaus sinnvoll für unser Leben vertreten kann. Insofern sind diese religiös und auch nicht religiös motivierten Moralvorstellungen, was diesen speziellen Akt der Vergebung angeht allesamt ein Modell für ein "rechtschaffenes" Leben, und finden von mir Anerkennung. Weniger Anerkennung finden die Autoren in dem Buch bei mir, die das Argument des Verbrechens gegen Gott oder Gottes Schöpfung heranbringen. Allerdings lässt sich dieses leicht Paraphrasieren und zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit umschreiben. Damit kann ich besser leben, wo ich mich doch immer wieder versuche als Atheist zu sehen (trotz des christlichen Hintergrundes, von dem ich abstamme).
Von einigen der Autoren in dem Buch wird beanstandet oder bezweifelt, ob die Reue des Soldaten auf dem Sterbebett ehrlich und wahrhaftig war. Eine Argumentation ist: von wahrhafter Reue kann nur gesprochen werden, wenn der Reumütige, wenn er in die gleiche Situation erneut geführt wird, in der er schon mal das Verbrechen begangen hat, und nun aber von dieser Tat absieht. Also in diesem speziellen Fall hätte der SS-Mann bei einer zweiten Massenverbrennung und Erschießung von Menschen die Befehle verweigert? Dies wird von mehreren Autoren im Buch zurückgewiesen. Es sei nicht klar, ob der Soldat wirklich sein Verhalten geändert hätte. Ich denke, er hätte sich und sein Verhalten geändert. Es wird oft das Konzept des teshuvah angesprochen, was genau die Abwendung vom alten Verhalten im jüdischen Moralkodex beschreibt. Und wenn man die Erzählung des SS-Mannes verfolgt, so fällt auf, dass er, als wieder einen Befehl bekommt zu den Waffen zu greifen, diesen nicht ausführt, nicht ausführen kann. Bei einem Angriff auf russische Stellungen holt ihn seine Mordtat ein, er kann (oder will) nicht weiter kämpfen. Und dies ist auch der Augenblick, wo er seine Verletzungen erleidet, an denen er schlussendlich verendet. Nun stelle ich mir natürlich die Frage, war dies eine Abkehr, nach vielen weiteren Morden und Kampfhandlungen? Dieses Unvermögen, nicht mehr kämpfen und töten zu können halte ich zumindest für einen starken Hinweis, dass der Soldat echte Reue gezeigt hat. Er ist sicher kein guter Mensch in dem Moment geworden, aber er hat einen Teil seiner Schuld eingesehen, und sein Gewissen hat ihn schließlich eingeholt.
Ich stimme den Autoren zu, die die Methodik des SS-Mannes verurteilen, einen "beliebigen Juden" an sein Sterbebett bringen zu lassen, der seine Sünden vergibt. Aus dem Monolog geht auch hervor, dass der Mann längst nicht vollkommen einsichtig geworden ist. Aber ich denke, dass er den ersten Schritt auf diesem Weg gemacht hat. Seine Lebenszeit danach war allerdings so kurz, so dass es pure Spekulation ist, ob er sich auf diesem Weg in der richtigen Richtung weiter fortbewegt hätte.
Ein letzter Gedanke, der mir gekommen ist: Der SS-Soldat hat sich nicht ein einziges mal entschuldigt für seine Verbrechen. Er hat seine Missetat gestanden und ausführlich geschildert, und danach Absolution verlangt. Was ich persönlich an Simon Wiesenthals Stelle erwartet hätte ist, dass der SS-Mann mir gesagt hätte: "Es tut mir Leid, dass ich das Leben für dich und alle unsere jüdischen Mitbürger zur Hölle gemacht habe. Es tut mir Leid, dass ich diese Morde begangen habe. Ich hoffe, dass du dieser Hölle entkommen kannst, und dieser Wahnsinn ein Ende hat." Aber diese Tendenzen, die wahre Empathie mit den Opfern seiner Verbrechen sehe ich bei dem Soldaten nicht. Zumindest sehe ich sie nicht in der Erzählung, sehe nicht, dass er sie offen ausspricht.
Ich kann beide Entscheidungen verstehen: dem Mann in jener extremen Situation zu vergeben, oder ihm diese Vergebung zu verweigern. Im Grunde sollten wir uns immer davon leiten lassen, möglichst nur Handlungen auszuführen, die Gutes bewirken (das meine ich nicht im Sinne des Gutmenschtums, sondern im ursprünglichen Begriff des ethischen Handelns) . Welche der Handlungen in diesem Fall zu einer Vermehrung des Glücks in der Welt führt, wage ich kaum abzuschätzen.
Donnerstag, 23. Juni 2011
Dienstag, 7. Juni 2011
Der Hund macht mobil
Der Hund hat jetzt einen praktischen Anhänger für Radausflüge. Mit einer Menge Leckerlis und einer stinkenden duftenden Decke eingeweiht, damit er nicht so gruselig ist.
Abonnieren
Posts (Atom)